In den Waadtländer Alpen
Im Frühjahr habe die Milch mehr Wasser, im Herbst mehr Trockenmasse, so Thérèse Morier. Milch ist essentiell fürs Handwerk der Moriers. Und die liefern ihnen derzeit 26 Kühe, die sich von Mai bis Oktober auf den Almen ihres Chalets La Cluse an saftigem Weidegras und Alpenkräutern gütlich tun.
Thérèse – Jahrgang 1962 – trägt ihr dichtes, dunkles Haar kurz. Es passt zu ihrem wachen Blick, unterstreicht ihre lebhafte Art. Die hat sie vielleicht aus ihrer Heimat mitgebracht, denn aufgewachsen ist Thérèse an der Alpensüdseite im Tessin, wo sich italienische Lebensart in den Alltag der Menschen mischt. Ins Waadtland kam sie über ihren Beruf als Krankenschwester. Deutsch kommt ihr flüssig über die Lippen, während ihr Mann Alexis stärker im hiesigen Französisch verhaftet ist.
La Cluse liegt auf gut 1250 m Höhe im so genannten Pays-d’Enhaut – dem Oberland – und gehört zur Gemeinde Rougement, das nur etwa 1000 Einwohner zählt, jedoch über die Landesgrenzen hinaus bekannt ist. Vor allem für die filigrane Scherenschnittkunst des einstigen Briefträgers Louis Saugy, dessen Motiven Besucher bei einem Spaziergang durch den Ort nachspüren können.
La Cluse ist eine Käserei. Und dort entsteht in handwerklicher Tradition L’Étivaz, ein Hartkäse mit dem herrlichen Aroma von Alpenkräutern. Am 24. September 1999 wurde der L’Étivaz die erste Schweizer AOP – Appellation d’Origine Protégée.
Mit der Kraft ihrer Arme
Es ist früher Vormittag. Und während Thérèse noch erzählt – vom Hof, den Alexis’ Vater 1967 erwarb und zur Käserei umbaute, ihren drei Kindern, vom Alltag in den Bergen – rumpelt ein Wagen auf den Hof. Auf der Pritsche Kannen voller Milch, die sogleich von Alexis und seinem Gehilfen Gilles in die Käserei gewuchtet werden.
Immer frühmorgens und abends machen sich die beiden Männer auf den Weg, um die Kühe – so genannte Tachetée Rouge oder Simmentaler Fleckvieh, mehr oder weniger zufällige Kreuzungen der Schweizer Simmertaler mit der alten Milchviehrasse Red Holstein – zu melken. Rund 420 Liter Milch bringen sie so täglich in die Käserei. Muskelarbeit. Von Mitte Mai bis Mitte Oktober. Tag für Tag. Bei jedem Wetter.
Während die frisch gemolkene Milch gleich in einen offenen Kupferkessel gegeben wird, schöpft Thérèse noch den Rahm von der gekühlten Abendmilch. Der Rahm wird etwa an Nachbarn verkauft oder zu Butter verarbeitet. Durch die Mischung aus sahniger und entrahmter Milch ergibt sich der richtige Fettgehalt für den L’Étivaz.
Versetzt mit Lab und Milchsäurebakterien wird der Inhalt des Kessels unter ständigem Rühren auf etwa 32° erhitzt, um ihn dann zum Gerinnen sich selbst zu überlassen. Eine Punze im Kupfer erzählt, dass der Kessel 750 Liter fasst. Von 1911 ist er, aber so blitzblank wie ein neuer. Das ist der Molke zu verdanken, mit der Alexis ihn täglich sauber reibt.
Nummer 263
Inzwischen ist die Käserei schon ordentlich verraucht vom Holzfeuer. Die Kehlen sind trocken und der Duft nach Käse, der über allem hängt, macht Appetit. Thérèse hat aufgetischt: knuspriges Nussbrot und Marmelade, Rahm, Ziger – ein aus Molke hergestellter Frischkäse – und natürlich den eigenen L’Etivaz. Dazu Kräutertee und Kaffee. Mit großen, kunstvoll geschnitzten Holzlöffeln wird Rahm geschöpft und aufs Brot gegeben. Oder in den Kaffee. Auch pur wird er gegessen. Der Bauch freut sich über das ehrliche Frühstück, der Gaumen genießt die kleine Sinnesreise zwischen herzhaft und süß.
Unterdessen schneidet Alexis in kraftvollen Bewegungen mit einer Käseharfe durch die Masse im Kessel, schürt das Feuer und erhitzt noch einmal. Bis auf 57°. Mit einem Leintuch wird der Käsebruch dann aus der Molke gehoben, in Formen gefüllt und gepresst. Es ist eine nasse Angelegenheit. Die Form wird mehrmals gewendet. Schließlich erhält der Laib die Markierung L’Étivaz AOP und eine fortlaufende Nummer. Bei den Moriers ist es gerade die 263. Rund 11 Liter Milch ergeben ein Kilogramm Käse. Ein Laib L’Étivaz kann zwischen 20 und 30 Kilo wiegen, im Herbst etwas weniger. Für die nächsten 24 Stunden wird der Käselaib in Salzlake gelegt, danach mit Salz eingerieben und für einige Tage in luftigen Holzregalen aufbewahrt, bevor die Moriers ihre Produktion in die Reifekeller der Genossenschaft bringen. Die kümmert sich auch um die weitere Vermarktung. In 135 Tagen bis zu 24 Monaten entwickelt der Alpkäse sein feines Aroma, seine schöne Textur und die typisch elfenbeinweiße Farbe. Manche Laibe reifen bis zu 30 Monaten.
Hello Töne, tiefe Töne
Über dem Balkon von La Cluse hängen gewaltige Kuhglocken. Ja, die würden durchaus von den Kühen getragen, sagt Thérèse. Beim Almauf- und -abtrieb. Schließlich seien es kräftige Tiere. Bis zum Abtrieb dauert es allerdings noch. Auf den Almen trägt das Fleckvieh kleinere Glocken, von denen jede ihren eigenen Klang hat. So lassen sich die Tiere unterscheiden. Oder auch einmal aufspüren, wenn sich eines verlaufen hat. In der Ferne versteckt sich das Rüblihorn hinter Wolken. Am Morgen habe es Schnee auf dem Gipfel gegeben.
© Texte und Bilder: Jutta M. Ingala
WER? WO? WAS
Wer einmal zusehen möchte, wie Alpenmilch in großen Kupferkesseln überm Holzfeuer erhitzt und handwerklich zu traditionellem L’Étivaz AOP verarbeitet wird, vielleicht sogar selber mithelfen möchte, der unternimmt eine Wanderung über einen der „Käsepfade“ in der Region. Bleibt am besten gleich über Nacht in einer Alphütte – Wie wäre es mit einem Strohbett als Nachtlager? – und lässt sich vom Läuten der Kuhglocken in den Schlaf begleiten. Für einen spannenden Roadtrip durch den bergigen schweizerischen Kanton ist ein eigener Mietwagen ideal. Zeitlich unabhängig und flexibel unterwegs – auf den Spuren von Geschichte, Handwerk und Natur. Infos dazu auch bei My Vaud Trip.
„Eine gute Küche ist das Fundament allen Glücks.“ (Georges Augustes Escoffier). Guter Käse gehört unbedingt dazu! Auf meiner Reise in die Waadtländer Alpen wurde ich vom Office du Tourisme du Canton de Vaud unterstützt. Herzlichen Dank dafür!
Was fuer ein lebendiger detailierter und leidenshaftlicher Bericht ueber die wunderschoene Landschaft und seine Bewohner im L’Étivaz, die einem durch Deine Beschreibung leibhaftig vor einem stehen. Nicht zu vergessen der Geschmack und Duft von der Landschaft, und der Kaeserei aus Deinen Zeilen aufsteigen. Es ist ein genuss Deine Berichte zu lesen liebe Jutta DANKE! _()_ Margit
Hallo, liebe Margit, wie schön, dass du mitliest, ah, freue mich sehr über deine Zeilen! Wenn du es dir vorstellen kannst, dann habe ich es wohl richtig gemacht : ) Ganz liebe Grüße über den großen, weiten Ozean, herzlich, Jutta
Hallo Jutta,
wieder mal ein sehr schöner Bericht von Dir über etwas, was man gar nicht bewußt „auf dem Schirm“ hat. Und bei Deinen Fotos bekommt man auch direkt Hunger. Und man sieht … nicht alles kommt aus (Lebensmittel-)Fabriken, sondern es gibt tatsächlich noch die kleinen Betriebe, die ihre Produkte selbst traditionell herstellen und diese dann vermarkten.
Viele Grüße Winfried
Lieber Winfried, wie schön, von dir zu lesen! Hoffe, es geht dir gut? Island-Pläne? … Ja, die gibt es. Meine Bewunderung für die unglaubliche Anstrengung, die mit der traditionellen Käseherstellung einhergeht. Da muss man Leidenschaft mitbringen. Die Vermarktung für den L’Étivaz übernimmt übrigens die Genossenschaft. Da macht Kräfte bündeln Sinn. Ca. 70 Familien, die den Käse produzieren, haben sich darin zusammengeschlossen. Sonnige Grüße, Jutta
Hallo Jutta, seit Dez 2016 war ich nicht mehr in Island gewesen. Dieser Winter ist absolut kraß in Island bzgl. des Wetters. In Nov 2018 und Okt 2019 war ich für je knapp 2 Wochen in Tromsø zum vor allem Nordlichterschauen. Vor allem 2019 war der absolute Wahnsinn. Ich hoffe, wir werden dieses Jahr wieder öfters von Dir in Deinem Blog etwas hören. Von Beiträgen wie diesem und die total passenden Fotos wollen wir mehr sehen!!
Viele liebe Grüße Winfried
Lieber Winfried, Norwegen steht auch ganz oben auf meiner Wunschliste fürs „Aurora gucken“ : ) Leider ist noch nichts daraus geworden … Ich war in den vergangenen zwei Jahren so sehr mit Buchrecherche und -schreiben beschäftigt, dass der Blog einfach warten musste. Hoffe selbst, das sich das nun wieder ändert! Sonnige Grüße, Jutta
Eine tolle Geschichte Jutta!
Das Detail mit dem Kupferkessel gefällt mir: 100 Jahre sind eine ganz schön lange Zeit. Was hält heute nur halb so lang? Und überhaupt: Wer pflegt seine „Werkzeuge“ heute noch mit so viel Hingabe?
Sehr schön, viele Grüße
Rainer
Herzlichen Dank, Rainer, ja, achtsam ist, hat lange Freude an den (guten) Dingen! Vielen Dank fürs Mitlesen, sonnige Grüße, Jutta
Das Lesen bringt Spass – ich mag Deine „Schreibe“ sehr und fühle mich Zeile für Zeile in die Käseproduktion im La Cluse hineingezogen!
Ich freue mich auf weitere Texte!
Herzliche Grüße
Peter
Lieber Peter, herzlichen Dank dafür! Freue mich, dass meine Geschichte dir den Tag und die schöne Begegnung mit den Moriers noch einmal ganz nah bringt. Es war wirklich besonders dort oben im Chalet. Witzigerweise ist mir der Geschmack des L’Étivaz auf dem Nussbrot und der des Rahms auf dem Holzlöffel noch unglaublich präsent! Herzlich, Jutta
Hi Jutta, hi Peter! Ich schließe mich dem Lob an … und schmecke ebenfalls noch ganz genau diesen cremigen Rahm! :-)
Guten Morgen, liebe Stephanie, schön, dass du hier bist! Nicht wahr? So einen cremigen Rahm hatte ich tatsächlich noch nie auf der Zunge. Und so einen guten Käse gibt es bei mir natürlich auch nicht jeden Tag! Schöne Erinnerungen – ganz herzlich, Jutta
Schön erzählt, Jutta!
Da fühle ich mich den Menschen und dem Ort ganz nah!
LG, Eva
Liebe Eva, das freut mich! Wenn einer über die Geschichten „mitreisen“ kann, ist es das schönste Kompliment! Herzlich, Jutta
Das Leben in den Bergen ist eine Herausforderung. Wer ihnen den Lebensunterhalt abringen möchte, muss sich oft in Verzicht üben. Aber so grandios, in so einer Kulisse zu leben! Der Käse ist sicher super lecker. Hab noch nie davon gehört, bin aber neugierig. Eine sehr schöner Bericht!
Elli
Er ist sehr lecker Elli! Zu dem Nussbrot eine Wucht. Gutes kann so einfach sein. Und dann doch wieder nicht, weil ganz schön viel Arbeit drin steckt. Wer sich darauf einlässt, der schmeckt es auch! Ja, die Landschaft ist toll! Gerade eben habe ich ein Foto von Thérèse Morier bekommen mit Blick auf Rougement im Schnee. Schon schön! Viele Grüße, Jutta
Hallo, liebe Jutta, schön, dass es hier neuen Lesestoff gibt! Vom L’Etivaz habe ich noch nie gehört. Irgendwie hat man ja gar keine Vorstellung davon, wieviel Arbeit in so einem Käse steckt. Dass da Menschen in die Berge kraxeln, melken, rühren, schneiden und so weiter. Und das jeden Tag. Unglaublich! Bewundernswert in einer Zeit, in der Menschen doch eher den einfachen Weg suchen. Freu mich über deine Geschichte!
Liebe Karin, das ging mir genauso: vom L’Étivaz habe ich zum ersten Mal auf der Reise gehört! Und freue mich natürlich über die „Begegnung“. Ja, da hast du recht, es ist schon besonders. Leidenschaft leben, Mühen auf sich zu nehmen, das wird seltener. Ich wünsche den Moriers, dass ihr Produkt immer viele Liebhaber findet. Wobei es schön ist, lokale Produkte auch vor Ort zu genießen. Da schmecken sie doppelt gut. Finde ich! Danke fürs Mitlesen, Jutta