Menü am Meeresboden [Norwegen]

Vor der Küste Norwegens liegt ein von Menschenhand geschaffener Fels am Meeresgrund, der architektonisches Meisterwerk, Gourmetrestaurant und Lebensraum für Ozeanbewohner zugleich ist.

An der Südspitze Norwegens, dort, wo sich das Meer ungestüm an Land wirft, Seestürme aus Nord und Süd aufeinanderprallen und tückische Strömungen lauern, wacht seit 1655 Lindesnes Fyr über das Skagerrak. Einst schüchterner Schein aus drei Dutzend Kerzen, lässt der Leuchtturm sein Licht heute weit übers Wasser tanzen, um Schiffe sicher über die berüchtigte Seestraße zwischen Nord- und Ostsee zu geleiten. Landmarke, Zuflucht. Noch immer wird Lindesnes Fyr von den zwei einzigen Leuchtturmwärtern Norwegens betrieben – eine modern gelebte Tradition.

„Modern gelebte Tradition“ ist auch das Motto des Unterwasserrestaurants Under, das sich nur wenige Kilometer nördlich von Lindesnes an die felsige Küstenlinie schmiegt. Under ist ein Projekt von Snøhetta, Norwegens renommiertem Architektur- und Designbüro, das mit Projekten wie der Osloer Oper oder dem Fischmarkt von Muttrah am Golf von Oman weltweit Aufsehen erregt.

Salzig peitschende Gischt

Under spielt mit Kontrasten – gewaltig und auch ganz subtil. Der 34 Meter lange und 11 Meter breite Monolith mit einer Schale aus rauem Beton senkt sich vom Land ins Meer. Dort, wo der markante Körper mit den gerundeten Kanten, die an von der Brandung geschliffene Felsen erinnern, diagonal aus dem Wasser ragt, umschmiegt ihn warm leuchtendes Eichenholz. Unter dem Einfluss der wechselnden Witterung und der salzigen Gischt wird das Holz schon bald verblassen und farblich mit der Landschaft im Njervefjord verschmelzen.

Die Eiche, geschlagen in einem Forst der nahen Umgebung, empfängt den Gast auch im Foyer, in der Vertäfelung und im Mobiliar, wo handwerkliche Details mit organisch fließenden Formen visuelle und taktile Reize schaffen. „Vielleicht werden sie nur von wenigen bewusst erfasst“, sagt Kjetil Trædal Thorsen, Mitbegründer und Architekt von Snøhetta, „doch Details sind die Essenz der Dinge, die jeder von uns ganz unbewusst wahrnimmt. Sie machen wahre Schönheit aus.“

Bei aller Schlichtheit in der Verbindung von Form und Funktion spielen im Under Details eine vordergründige Rolle. Die Wärme der Eiche beispielsweise, die angenehme Wohligkeit verströmt, setzt sich fort im fein strukturierten Textil, mit dem Decke und Wände nicht nur ästhetisch, sondern auch funktional bespannt sind: Das akustisch wirksame Material schluckt den Schall. So entsteht trotz offener Architektur, trotz Beton und Rohstahlbrüstungen, eine Atmosphäre der stillen Erhabenheit.

Vom Foyer führt eine großzügige Treppe hinunter auf den Grund des Ozeans. Während am Geländer die warme Hand auf kühles Messing trifft, geht auch das Farbspiel von erdigen Tönen über in das Orangerot der Abendsonne, um schließlich im Blaugrün des Meeres zu versinken. Der Übergang von Land zu Wasser, von starr zu bewegt wird ganz unaufgeregt visualisiert.

Lebendiger Forschungsort

Hier, fünf Meter unter dem Meeresspiegel, öffnet sich ein Panoramafenster auf die Flora und Fauna im Njervefjord. Wie durch ein versunkenes Periskop blickt der Gast auf die Welt hinter der Scheibe. „Jetzt schimmert das Wasser grünlich, denn es wird Frühling im Meer. Mikroalgen blühen auf, die Sicht wird abnehmen. Zum Winter hin, wenn es kein Wachstum gibt, wird das Wasser wieder glasklar sein“, sagt Meeresbiologe Trond Rafoss, der Under zu Forschungszwecken nutzt. Der Betonkörper, dessen Oberfläche bewusst rau gestaltet ist, sodass sich Algen, Muscheln oder Napfschnecken darauf ansiedeln können, soll als künstliches Riff und Lebensraum für die hier vorkommende große Artenvielfalt dienen. „Im Skagerrak, wo sich das brackige Wasser der Ostsee mit dem salzhaltigeren der Nordsee mischt, ist die Biodiversität besonders hoch“, erklärt Trond.

Der Schatz lokaler Werte

Ein Umstand, den sich auch der dänische Spitzenkoch Nicolai Ellitsgaard, Chef im Under, zunutze macht: Fisch – auch Arten, die den meisten Gaumen bisher nicht gemundet haben – und Meeresfrüchte, Seegras, selbst das Meerwasser, verwendet er kreativ für sein kulinarisches Konzept. Fleisch, Gemüse oder Obst stammen überwiegend von regionalen Erzeugern. Für die saisonale Ernte von beispielsweise Fichtennadeln, die sauer eingelegt ein ganzjährig verwendbares Gewürz sind, wird auch schon mal das 16-köpfige Küchenteam gesammelt in die Wälder geschickt.

Stig Ubostad und sein Bruder Gaute, die die Eigentümer des Unterwasserrestaurants sind, stammen aus der Region. Den Brüdern liegt die Einbindung der Bevölkerung in ihr zukunftsweisendes Projekt am Herzen. Alle Holzarbeiten wurden von Hamran, einer Tischlerei, die seit 1930 hier ansässig ist, ausgeführt. Auch die Messingarbeiten und die Keramik im Restaurant stammen aus lokalen Werkstätten. Wie sein südlicher Nachbar, der Lindesnes Fyr, soll Under eine Verbindung zwischen Land und Meer, zwischen Tradition und Moderne schaffen und damit als Monument für die Nachwelt erhalten bleiben.

© Text: Jutta M. Ingala | Fotos: Jutta M. Ingala, Under (Stian Broch, Ivar Kvaal, Andre Martinsen, Inger Marie Grini, Bo Bedre)

PRAKTISCHE INFO:

Under
Bålyveien 48
4521 Lindesnes
Norwegen
www.under.no

Das Degustationsmenü im Under besteht aus 17 Gängen. Etwa 240 Euro.
Übernachtung zum Beispiel im benachbarten Lindesnes Havhotell. Wer es abenteuerlicher mag, bucht sich im Leuchtturmwärterhäuschen am Lindesnes Fyr ein.

„Menü am Meeresboden“ erschien in leicht veränderter Fassung zuerst im Magazin NORR.

Herzlichen Dank an die Teams von Under und Visit Norway, die zu der Reise an den Njervefjord eingeladen haben.

9 Gedanken zu “Menü am Meeresboden [Norwegen]

  1. Pingback: Monatsrückblick Juli mit den NordNerds | einfachschweden.de

  2. Hallo Jutta,

    das ist ja eine coole Location, wo Du warst. Und wieder einmal tolle Fotos! Das Restaurant und auch sein rauhes Äußeres und dann noch alles in der Nordsee ergeben sicher ein perfektes und einzigartiges Ambiente. Zu Corona-Zeiten ist das Restaurant aber schlecht zu lüften 😊, wobei auch für normalen Zeiten werden die Betreiber sich sicherlich hierzu etwas einfallen lassen.

    Ich habe wir eben die Preise angesehen. Mit einer Großfamilie sollte man dort aber nicht zu oft essen gehen. Aber das macht man dann wahrscheinlich auch nur einmal 😊. Und ein Urlaub im Leuchtturmhaus ist sicher auch ganz nett!

    Viele Grüße
    Winfried

    • Lieber Winfried, ja, das mit dem Lüften … hat seit geraumer Zeit ja eine völlig neue Bedeutung! Fenster öffnen geht im UNDER ja nicht, aber ich bin überzeugt, dass dieses Thema ähnlich innovativ gelöst wurde wie alles andere dort. Ich habe tatsächlich keine Vorstellung davon, wie UNDER die pandemiebedingten Einschränkungen überstanden hat. Aber überstanden hat man sie! Lange Wartelisten trotz hoher Preise : ) Nein, mit Großfamilie geht man dort wohl nicht essen. Es ist ein Gesamterlebnis, das man sich gönnt. Es wird nachklingen. Da tritt der monetäre Aspekt in den Hintergrund. Die kleinen Gerichte mit ihren ungewöhnlichen Zutaten, inszeniert fürs Auge, der Raum – zwar unter Wasser, dennoch großzügig und erhaben wie eine Kathedrale – und der Blick auf die Unterwasserwelt. Wem das nicht unter die Haut geht, der ist nicht empfänglich für das Besondere! Und der darf dann auch nicht in den Leuchtturm … oder ins Wärterhäuschen: Drama pur! Klebt standhaft am Felsen, während sich die See unablässig dagegen wirft. Nachts bei Sturm – das stelle ich mir großartig vor! Herzliche Grüße, Jutta

      • Hallo Jutta, das stimmt wahrscheinlich mit dem „schlechten“ Wetter und dem Sturm. Bei schönem Wetter kann ja jeder :) In Island macht, zumindest für mich, das Baden draußen in den Geothermalbädern im Winter und schlechtem Wetter auch mehr Spaß als im Sommer. Das finde ich richtg gemütlich. Dir noch einen schönen Sonntag und viele Grüße
        Winfried

      • In einem Hot Tub bei Minusgraden und am Himmel Nordlichter! #unerreicht Lieber Winfried, jetzt habe ich Lust auf Island! Herzlich, Jutta

    • Ich danke dir, Werner! Gesamtkunstwerk trifft es sehr gut. Und für meinen Geschmack eine wirklich gelungene Symbiose von Architektur und Natur. Herzlich, Jutta

  3. Irre! Da ist nicht nur die Architektur „wow“, das klingt nach einem durchdachten Konzept. Ich frage mich, wie es sich „unter Wasser“ anfühlt? Hattest du Beklemmungen? Ich habe auf der Website nachgeschaut: Ist ziemlich ausgebucht : ) Würde ich gern einmal erleben!
    Viele Grüße, Karin

    • Liebe Karin, ja, das ist wirklich gut durchdacht und eine Koop von vielen Experten, die alle ähnlich „ticken“. Darum ist das Ergebnis auch so außergewöhnlich! Dass die Menschen vor Ort mit einbezogen werden ist nur konsequent und kommt dort sehr gut an. Ich würde auch gerne wieder ins Under. Nein, Beklemmungen hatte ich keine, denn der riesige Unterwasseraum ist sehr großzügig. Die Treppe ist breit, man hat die Empore zum Foyer immer im Blick. Es fühlt sich gut an! Sonnige Grüße, Jutta

Heraus mit der Sprache! Ich sehe es wie Karl Popper: "Der Wert eines Dialogs hängt vor allem von der Vielfalt der konkurrierenden Meinungen ab."

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