Gischt aus Glas [Reykjavík]

Wer Harpa verstehen will, muss zuerst Island bereisen. Muss sich einlassen auf die Launen des Landes und seine Farben, die unter tief hängenden Wolken so viel intensiver leuchten als im gleißenden Licht der Sonne. Muss dem Meer mutig – ja, tatsächlich, Mut braucht man – gegenübertreten und die Gischt der Wellen, die in Island niemals sanft ausrollen, auf der Haut spüren. Eiskalt und mehr als nur feiner Nebel. Und er muss Demut zeigen im Angesicht der bizarren Kathedralen aus Stein, jenen Kunstwerken der Natur, die wie präzise gemeißelte Säulen durch die Erdkruste brechen. Stumme Zeugen längst vergessener Vulkanausbrüche. Und doch so beredt.

Islands Natur erzählt Geschichten. Wer ihr zuhört, beginnt zu verstehen.
„The rootless seaweed is restless, far and wide it drifts. In the dampened wind and currents, back and forth it shifts.” Jóhann Sigurjónsson

Ólafur Elíasson ist einer der zuhört. Der Künstler, der in Island aufwuchs und heute in Kopenhagen und Berlin lebt, beschäftigt sich mit Phänomenen der Natur: Bewegung, Licht, Reflexion. Er spürt den Details nach, der Essenz der Dinge und verdichtet sie in seinen Arbeiten zu einem Gesamtkunstwerk. Kunst, die nicht exklusiv ist, sondern meist draußen stattfindet. Kunst, deren Komplexität nicht gleich erkennbar ist. Kunst für die Massen. 
Auch wenn die Massen das im Fall von Harpa, Elíassons preisgekröntem Opernhaus in Reykjavík, erst einmal anders sehen: Millionen teure Extravaganzen sind in Zeiten des finanziellen Kollaps wenig populär. Aller Vernunft zum Trotz wird Harpa vollendet. Beethovens 9. versetzt sie am 4. Mai 2011 zum ersten Mal in symphonische Schwingungen.

Und heute? Der kühne Bau wird 2013 mit dem renommiertesten europäischen Architekturpreis, dem Mies-van-der-Rohe-Preis der Europäischen Union ausgezeichnet. Die Isländer haben ihre Harpa – das isländische Wort für „Harfe“ und gleichzeitig Name des ersten Sommermonats im altisländischen Kalender – da schon längst in ihr Herz geschlossen. Harpa ist Reykjavíks neue Ikone, ein Symbol für den unerschütterlichen Optimismus dieses eigensinnigen Völkchens, das sich so gar nicht um Konventionen schert. Sie versinnbildlicht den Mythos einer ganzen Nation. 

In seiner Gesamtheit ist das Opernhaus übrigens nicht in Elíassons genialem Kopf entstanden. Seine gläserne Hülle hingegen schon. Was auf Distanz wie ein spiegelglatter Körper aussieht, ist in Wahrheit eine wabenartige Struktur aus Glas. Nicht irgendein Glas, sondern dichroitisches Glas. Der Zungenbrecher sorgt dafür, dass auch das einfallende Licht ins Stolpern gerät, dass nur bestimmte Wellenbereiche durchgelassen, andere reflektiert werden. Durch diesen „Filter“ erscheinen einzelne Flächen der Glaswaben je nach Betrachtungswinkel und Intensität des Tageslichts unterschiedlich farbig: 

Schattierungen von Grün, Gelb und Blau. Farben Islands. Eine Hommage an bemooste Lavafelder, das bunte Hochland, den Himmel und die See. Ein Kaleidoskop im Wechselspiel von Sonne und Wolken. Raffiniert ausgetüftelt, gleichzeitig poetisch. Wer genau hinsieht, erkennt auch, dass die Form der Waben nicht zufällig gewählt ist: Sie ist den für Island so typischen Basaltsäulen nachempfunden. Ganze 956 verschmelzen hier zu einem glitzernden Resonanzkasten. 

Harpa steht wie ein Monolith am Ufer der Bucht, die Reykjavík (= Rauchbucht) ihren Namen gab, spiegelt in ihrer Fassade die dramatische Landschaft genauso wie die vielen Gesichter der lebendigen Stadt. Inspiriert von der Natur eines Landes, virtuos komponiert zu Gischt aus Glas.

© Text und Fotos: Jutta M. Ingala

Wer? Wo? Was?
In Reykjavíks Oper Harpa kann man nicht nur Beethovens 9. Symphonie lauschen, sondern auch ganz anderen Rhythmen, z. B. während der Musikfestivals Sonar oder Iceland Airwaves.
Ein Leser-Tipp von Winfried: Harpa lässt sich auch im Rahmen einer Führung besuchen. Mit exklusivem Blick hinter die Kulissen. 2x täglich.
Bei Icelandair gibt es übrigens regelmäßig Flug-Packages zu den Kulturevents in Reykjavík.
Harpa | Austurbakka 2 | 101 Reykjavík | www.harpa.is

Mehr Bilder aus Island gibt es auf Instagram unter meinem Hashtag #InLoveWithIceland

Diese Reise wurde unterstützt von Icelandair.  Herzlichen Dank dafür!

44 Gedanken zu “Gischt aus Glas [Reykjavík]

  1. Pingback: Der NordNerdsThemenschwerpunkt: Architektur in Nordeuropa

    • Guten Morgen Simone, ja, mein absolutes Lieblingsgebäude! Es geht unter die Haut: poetisch, überwältigend, smart, einfach nur schön. Ich möchte immer wieder hin! Sonnige Grüße, Jutta

  2. Ja, aller Vernunft zum Trotz, das ist Harpa! Überwältigend, monströs und elfenzart zugleich. Jutta, du beschreibst das Atmosphärische der Harpa sehr eindringlich. Wunderbar! Viele Grüße, Sabine

    • Herzlichen Dank Sabine! Es ist natürlich einfach, Harpa überwältigend zu finden, wenn man selbst die Zeche dafür nicht zahlen muss. Unlängst habe ich darum einen dänischen Architekten, der in Island lebt, nach seiner Meinung zu Harpa, zur Fertigstellung des Baus während er Finanzkrise und zur Bedeutung des Oper für die Bevölkerung heute gefragt. Ich bin gespannt auf die Antworten, die ich später auch in einem Artikel teilen werde. Für mich bleibt sie ein echtes Lieblingsobjekt! Herzliche Grüße, Jutta

    • Hi Ronni, thank you so much! You already know that Harpa is my favourite building, don’t you? We spent quite some time in the opera that day. Hope I can visit it again soon because I have learned only recently that you can do some guided tours there to catch a „glimpse behind the scenes“. Would be lovely! Have a great day, Jutta

  3. Das Gebäude ist atemberaubend schön! Die Information zum Künstler und seinen Ideen finde ich auch super spannend. LG, Sonja

    • Hallo Sonja, vielen Dank, Harpa ist tatsächlich zu meinem Lieblingsgebäude avanciert! Ólafur Elíassons Projekte, seine Ansätze und Ideen sind total interessant. Steffi hat ein paar Kommentare weiter unten einen Tipp zu Kunst von ihm in München, die ich selbst noch nicht kannte. Ein Klick auf den Link lohnt sich! Schöne Grüße, Jutta

  4. Wirklich beeindruckendes Bauwerk, das in seiner Komplexität fast ein wenig bienenstockartig auf mich wirkt. Ich hoffe, dass es in meiner alten Heimat Hamburg eine ähnlich gutes Ende mit der Elbphilharmonie nimmt…

    Muss gerade noch die Gelegenheit nutzen, Dir zu erzählen, dass ich wohl Mitte April endlich (das 1. Mal) in Brüssel sein werde und mich schon sehr freue. Will bei der Gelegenheit unbedingt die königlichen Jugenstil-Gewächshäuser besichtigen, die immer nur wenige Wochen im Jahr geöffnet sind. Das muss ziemlich beeindruckend sein…

    Herzliche Wochenendgrüße, Beatrice

    • Hallo Beatrice, ja, den Vergleich zum Bienenstock finde ich auch sehr passend. Es ist schade, wenn ein so grandioses Projekt wie das in Hamburg in eine solche Schieflage gerät. Schauen wir, was daraus wird – architektonisch finde ich die Elbphilharmonie fantastisch.
      Übrigens kenne ich die Gewächshäuser in Brüssel auch noch nicht. Da muss ich gleich einmal recherchieren. Ein Besuch würde mich auch sehr reizen. Danke für den Hinweis, liebe Grüße, Jutta

    • Hallo Steffi, lieben Dank! Ja, die Natur steht sicher im Vordergrund, aber Island kann noch eine ganze Menge anderer Dinge! Ich weiß nicht, ob du den vorherigen Artikel über Guido van Heltens Murals in Reykjavík gesehen hast? Ein ganz wunderbarer Ausdruck von Kunst und Poesie im Land der Sagas. Die Oper ist für mich trotz der auf den ersten Blick „kühlen“ Form und Fassade eben auch pure Poesie. Das „Wirbelwerk“ kannte ich noch nicht. Ein tolles Objekt! Herzlichen Dank für den Link. Ich hoffe, dass ich ganz bald einmal wieder in München sein werde, um das Ganze im Original zu sehen! Herzliche Grüße, Jutta

  5. Harpa ist einfach nur großartig. Selten habe ich so ein beeindruckendes Gebäude gesehen. So, und jetzt guck ich mal, was genau dieses dichroitisches Glas ist. Der Begriff erinnert mich an valyrischen Stahl (für die Game of Thrones Fans unter den Lesern). ;)
    Liebe Grüße und danke für den wunderbaren Beitrag.

    • Jetzt bin ich neugierig auf den Stahl! Seit meiner ersten Island-Reise ist Harpa mein erklärtes Lieblingsgebäude. Ich habe eine Schwäche für Objekte – groß oder klein – die so durchdacht sind und die sowohl Technik, Handwerk, Kreativität und wie in diesem Fall das Wissen um Land und die Menschen selbst auf einzigartige Weise miteinander zu vereinen wissen. Schön, dass auch du Harpa-verliebt bist! Herzliche Grüße und lieben Dank, Jutta

  6. Oh ich liebe die Harpa! Eines der schönsten Gebäude, dass ich je gesehen habe. Wir haben leider gar nicht gepeilt, dass man da einfach so rein kann, ohne in ein Konzert zu gehen, standen nur das ein oder andere mal staunend davor. Zum Glück sind wir im Sommer wieder da und da wird das dann nachgeholt!

    • Hallo Susi, ja, das ist so schön an der Oper: ein offenes Haus! Übrigens hatte einer der Leser hier – der große Island-Kenner Winfried – gestern noch einen großartigen Tipp: Du kannst Harpa auch im Rahmen einer Führung besuchen und hinter die Kulissen schauen. Ich denke mir, dass das ziemlich spannend ist! Wünsche dir schon jetzt eine fabelhafte Reise! Herzliche Grüße, Jutta

      • Vielen Dank für die Blumen, Jutta. Ich war zwar schon ein paar Mal jetzt dort oben gewesen und kenne einiges, auch von der Geschichte der Insel, aber der groooooooße Kenner bin ich jetzt auch nicht :) Ich halte nur die Augen offen.

      • Guten Morgen Winfried, doch ich denke schon! Jedesmal, wenn wir uns auf verschiedenen „Kanälen“ ausgetauscht haben, habe ich etwas Neues über mein Lieblingsland von dir erfahren. Finde ich klasse! Wünsche dir ein super sonniges Wochenende, Jutta

    • Ja, das ist er! Natürlich ist Harpa ein Projekt von vielen Talenten, aber Elíasson hat die ganzen Aspekte von Licht, Farbe, Bewegung und den Bezug zur isländischen Landschaft eingebracht. Durch und durch poetisch. Und selbst das passt wieder zu den Isländern, den grandiosen Geschichtenerzählern! Liebe Grüße, Jutta

    • Hi Andreas, nein du hast recht, das Gebäude besteht ja aus schräg ineinandergesetzten Körpern und an den Seiten ist die Fassade auch tatsächlich plan. Wenn du dich durch die verschiedenen Fotos klickst, sieht du, dass es aber auch dort, wo die Körper „verschmelzen“, Öffnungen gibt und dort wieder die wabenförmige Struktur zum Vorschein kommt. Auch bei den Innenaufnahmen kann man die stark strukturierten und die planen, nur durch Stahlrahmen strukturierten Flächen gut erkennen. Ein Gebäude ganz ohne (offentsichtliche) Regeln und darum so überaus spannend. Finde ich : ) Viele Grüße, Jutta

    • Guten Morgen Nina, lieben Dank! Es ist das, was ich selbst auch suche, wenn ich woanders surfe: Ein bisschen „Geschichte“ hinter der Geschichte : ) Freut mich sehr, dass dir das auch gefällt! Sonnige Grüße, Jutta

    • Hallo, liebe Heike, ja, auch gezähmt in einem Kasten aus Glas ist das Herz noch wild! Ich möchte auch wieder hin, endlich einmal die Westfjorde erkunden. Zum Glück läuft die Insel nicht davon! Herzliche Grüße, Jutta

  7. Hallo Jutta,

    ja die Harpa ist ein tolles Gebaude (+tolle Fotos und Artikel von Dir wie immer). Viele Städte -egal wo- wären froh, wenn sie so ein multifunktionales Gebäude hätten. Es war eine weise Entscheidung, nach dem Baustopp in der Finanzkrise dann doch das Gebäude fertigzustellen.

    Noch ein Tip. Was ich jedem empfehlen kann ist eine geführte Tour durch die Harpa, die 2x pro Tag stattfindet, zu machen. Habe ich schon drei Mal gemacht. Hierbei wirft man einen Blick in alle Säle und hinter die Kulissen. Insbesondere der große Konzertsaal ist sehr imposant. Bei der Führung sieht man auch die „Schallflächen“ außerhalb des Saals, mit dem der Sound gezielt verändert/verzögert werden kann, um einen besseren Sound zu bekommen. Auch die anderen Räume sind sehenswert.

    Ich war bisher in drei Konzerten in der Harpa, alle im großen Saal „Eldborg“. Zweimal war ich davon in den leider nicht mehr stattfindenden Konzerten „Frostrósir“ (in der Vorweihnachtszeit mit allen bekannten Stars von Island inklusive großem Chor und Streichorchester. Habe natürlich alle CDs von den Veranstaltungen. Video: Konzert- https://vimeo.com/52924168) Videoclip – http://goo.gl/qcAzjB (macht direkt Laune auf den nächsten Winter :) ) und einmal in einem klassischen Beethoven-Konzert.

    Beim vorletzten Mal habe ich in der Harpa per Zufall meine (dt.) Touristenführerin von meinem ersten Islandaufenthalt aus 2005 getroffen. Sie war und ist Touristenführerin und Harfistin in dem Symphonieorchester.

    Viele Grüße
    Winfried

    • Hallo Winfried, schön, von dir zu hören! Und herzlichen Dank für den fabelhaften Tipp: Dass man an einer Führung durch das Haus teilnehmen kann, hatte ich gar nicht auf dem Schirm. Ich habe über das geniale Akustik-System gelesen. Und eigentlich ist es unfair, dass Ólafur Elíasson hier mit seiner Fassade im Rampenlicht steht, denn Harpa ist natürlich ein Gesamtkunstwerk an dem viele Techniker, Architekten und vor allem zupackende Hände mitgewirkt haben. Und heute lebt es natürlich von den Menschen, die dort ihre Kunst präsentieren und denjenigen, die die Kunst suchen. Ich denke auch, dass es eine glückliche Entscheidung war, den Bau wieder aufzunehmen. Das Haus ist eine echte Attraktion geworden und so lebendig, da immer voller Menschen. Außerdem: Was wäre die Nation der großen Geschichtenerzähler und Musiker ohne ein ordentliches Opernhaus!? Deinen Tipp mit den Führungen werde ich morgen im Text ergänzen. Vielen Dank noch einmal dafür! Sonnige Grüße, Jutta

  8. Wow, noch mehr Kunst in Reykjavík! Obschon das hier ja der totale Gegensatz zu dem Streetart-Künstler ist. Gefällt mir auch super gut!

  9. Wie genial ist das denn? Ein unglaublich schönes Gebäude! Meine Güte, vor lauter Ecken und Kanten wird einem ja ganz schwindelig! Toll! Lena

    • Ja, da kann man vor lauter Winkeln leicht den Überblick verlieren! Es ist wirklich ein wunderschönes, durch und durch außergewöhnliches Gebäude. Nachts werden die Waben z. T. beleuchtet. Auch wechselnd oder in einem einzigen Farbton wie Pink (Breast Cancer Awareness Month). Freue mich, dass es dir gefällt! Jutta

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