Wortgeflüster zwischen alten Mauern [Bredevoort]

„Du öffnest die Bücher und sie öffnen dich“ Tschingis Aitmanov

Rembrandts Muse
Im „hintersten Winkel“ der Niederlande, im Achterhoek, liegt Bredevoort. 1.500 Einwohner, vielleicht etwas mehr oder auch etwas weniger, und eine hohe Dichte an gemütlichen Cafés. Überhaupt ist der Achterhoek, der „hintere Winkel“ der Niederlande, voller versteckter Gemütlichkeit. Und von diesseits der Grenze betrachtet immer nur einen Katzensprung entfernt. Wie Bredevoort. Bücher, open-air

Bis 1188 reicht dessen Geschichte zurück. Damals gehörte das Land an der „breiten Furt“ zum Bistum Münster. Von der „breiten Furt“ – „brede voorde“ – , einer Sandbank durch morastiges Gebiet, leitet sich auch der Name des Städtchens ab. Im Achtzigjährigen Krieg Schauplatz einiger Scharmützel. Aber nicht den heldenhaften Soldaten, sondern einer ihrer Töchter hat man ein Denkmal gesetzt: Hendrickje Stoffels, besser bekannt als Muse und Geliebte von Rembrandt van Rijn, wuchs in Bredevoort auf. Ihre Statue steht am Markt. Sint-Joriskerk

Literarische Radtour
Berühmt ist der Ort heute vor allem für seine Bücher. 20 Antiquariate soll es hier geben – nicht, dass ich nachgezählt hätte – und Legionen von Regalen und Schränken voller Romane und Lexika, Gedichtsbändchen und Krimis, die die verwinkelten Gassen säumen. Ganz offen, zur Selbstbedienung quasi. Obolus fürs Fundstück in den vorgesehen Briefkasten werfen. Fertig! Wer nach Bredevoort kommt, darf nicht ohne Lektüre heimfahren.

Büchermärkte, echte Buchbinder und ein Literaturfestival, sogar ein überdimensionales Werk, in dem die Chronik der Stadt auf eisernen Seiten festgehalten ist, gibt es im Ort. Der ist übrigens Teil der „Poesie-Route“, die auf über 70 Kilometern Schauplätze der Literatur im Achterhoek miteinander verbindet. Orte, an denen Autoren wie Gerrit Komrij oder Maarten ´t Hart gelebt oder denen sie in ihren Werken Raum gegeben haben. Verewigt in Poesie und Prosa, zusammengestellt von Henk Krosenbrink – zu Lebzeiten selbst Schriftsteller und in der Region verwurzelt – unter dem Titel „Op de pedalen van het woord“. Übersetzen muss man wohl nicht. Der originelle Reiseführer ist schon etwas antiquiert und darum nicht mehr im Handel erhältlich. Fündig werden Interessierte vielleicht noch in einem von Bredevoorts zahllosen Regalen. Wer weiß… Winzige BauerngärtenUnter alten Bäumen

Nostalgie pur
Die Sache mit den Büchern ist übrigens noch gar nicht so alt. Erst 1993 wurde die Idee geboren, den denkmalgeschützten Gebäuden, deren Mauern Geschichte atmen und Geschichten erzählen, neues Leben einzuhauchen. Ganz nach dem Vorbild des walisischen Hay-on-Wye schienen Antiquariate dafür perfekt. Zwar lässt der Online-Handel die Idee heute etwas kränkeln, aber Bücher sind noch immer Herz und Seele der Stadt. Im „The English Bookshop“ finde ich Schönes von Dickens und den Brontës, die meine romantische Seite ansprechen, und „Our country’s shells“, ein reich illustriertes Buch über Großbritanniens Welt der Muscheln. Zauberhaft! Zeitzeuge

Nostalgie entdeckt man in Bredevoort auch sonst in jedem Winkel. Hübsch restaurierte Häuser sind von wild-romantischen Bauerngärten umgeben. Dort wo nur ein paar Zentimeter zwischen Hauswand und Gasse bleiben, ranken im Sommer schlanke Stockrosen in die Höhe. Kleine Tafeln informieren über frühere Bewohner. Die meisten Häuser gehörten so genannten „Borgmannen“, adeligen Vasallen, die sich zur Verteidigung von Burg und Stadt verpflichtet hatten. Die Burg ist schon lang nicht mehr. Am 12. Juli 1646 brannte sie nieder, nachdem ein Blitz in den Pulverturm eingeschlagen hatte und ganze 320 Fass Schießpulver in Brand setzte. Die Explosion fegte sämtliche Pfannen von den Dächern der Stadt. KuriositätensammlungGarten in Töpfen

Kunst und Kurioses
Neben Buchhandlungen schmiegen sich gemütliche Cafés mit musealem Charakter und Kuriositätengeschäfte voller wunderlicher Auslagen zwischen die alten Häuser und beleben den Wirrwarr aus Gassen und Plätzen. Ein Haus steht leer und zum Verkauf. Ich spähe durchs Fenster: weiß gewaschene Wände und niedrige Decken, Holzböden, die in meiner Fantasie unter leisen Schritten knarren, ein offenes Herdfeuer, winzige Fenster und dahinter ein ebenso winziger Garten. Eine Puppenstube.

Am Marktplatz mischt sich Modernes in das alte Stadtbild: Die Galerie 21 zeigt wechselnde Ausstellungen zeitgenössischer Fotokunst und Arbeiten von Absolventen der nahen Akademie AKI Enschede. Und wer sich selbst zum Künstler berufen fühlt, kann seine Ambitionen im klitzekleinen Atelier für Schreib- und Sprechkunst De Muiswinkel – wörtlich „Der Mauseladen“ –, nur ein paar Schritte weiter verwirklichen. Bredevoorts Bücher sprechen alle Sprachen

Schnell noch einmal ins Café Bertram am ´t Zand, unter alten Bäumen sitzen und – ganz untypisch – Pannacotta mir Erdbeerpüree naschen. Das Bertram ist übrigens eine von fünf kulinarischen Stationen auf der Radtour „Happen en Trappen“ – in etwa „Radeln und Schlemmen“ – entlang des Flüsschens Schlinge, das durch den Achterhoek mäandert.

Lichter in der Stadt
Für heute nehme ich Abschied, doch der nächste Besuch ist schon dick im Kalender angestrichen: für September, denn dann leuchtet Bredevoort auf. Hinter den Fenstern der alten Häuser flackern Kerzen, die Gassen werden von Laternen gesäumt und dort, wo sich Wege zu Plätzen öffnen, ziehen kunstvoll illuminierte Objekte die Blicke der Besucher auf sich. „Bredevoort schittert“ – prächtig und poetisch zugleich! Mini-Antiquariat

Wer? Wo? Was?
Über Aktivitäten in und um Bredevoort informieren die Seiten Boekenstad und „Bredevoort schittert“ mit Terminen und Wissenswertem speziell zum Lichterfestival. Wer auf zwei Rädern im Achterhoek unterwegs ist und sich gerne in originellen Locations kulinarisch verwöhnen lässt, findet Inspiration auf der Seite „Happen en trappen“ („Radeln und Schlemmen“).

Bredevoort ist übrigens auch Schauplatz meines Buches „52 kleine & große Eskapaden im Osten der Niederlande“. Kleine Auszeiten von Frühjahr bis Winter. Entspannt in Wanderschuhen, per Rad oder im Kanu unterwegs bei unseren niederländischen Nachbarn!

Mein Besuch in Bredevoort wurde vom Das andere Holland unterstützt. Herzlichen Dank dafür!

 

12 Gedanken zu “Wortgeflüster zwischen alten Mauern [Bredevoort]

    • Auf jeden Fall, liebe Sabine! Und wenn nicht im Sommer, dann im September zum Lichter-Festival. Wobei es sich an warmen Sommertagen natürlich besonders nett durch die kleinen, krummen Gassen schlendern lässt. Melde dich, wenn ihr Bredevoort auf eure Agenda setzt! Herzliche Grüße, Jutta

  1. Breedevort ist ganz besonders schön, ich war vor einigen Jahren mit meinen Kindern dort da waren die noch auf Spielplätzen zugange :-) am schönsten aber fand ich, dass tatsächlich überall Menschen herumsaßen und einfach lasen. Das hatte etwas Besonderes in unserer so elektronischen Zeit… Ich Ticker dich übrigens nächste Woche noch mal an.. du weißt schon.
    Liebe Grüße

    • Hallo, liebe Andrea, du warst tatsächlich schon einmal in Bredevoort? Toll! Ja, so winzig, immer belebt und dabei ganz entspannt. Die Atmosphäre überträgt sich wohl auf die Besucher. Ich mag es dort sehr. Einfach mal auf einen Kaffee rüber fahren ist von hier natürlich ganz einfach! Herzliche Grüße, Jutta (Ja, ich habe es auch nicht aus den Augen verloren!)

  2. Wie immer ein toller Beitrag — ich habe mich gleich in das Städtchen verliebt. Und bei „Happen en Trappen“ musste ich doch ein wenig schmunzeln.

    • Hallo Christoph, lieben Dank! Ja, so sind sie, meine niederländischen Nachbarn : ) Ist aber schon ein tolles Duo, „Radeln und Schlemmen“, nicht wahr? Sonnige Grüße, Jutta

  3. Hallo Jutta,
    wow wie schön!!! Das ist ja fast wie in einem Film … zu schön um wahr zu sein. Daß es noch so etwas gibt! Ich als Bücherfan (richtige Bücher, keine eBooks!) finde die toll, was die Stadt zu bieten hat. Da kann man sicher eine Woche zubringen ohne daß man sich langweilt wobei etwas niederländisch sicher nicht schlecht ist. Und bei „Pannacotta mir Erdbeerpüree“ bekomme ich am späteren Abend direkt Hunger :)

    Viele Grüße
    Winfried

    • Guten Morgen Winfried, dann ist Bredevoort genau das richtige Ausflugsziel für dich! Ich liebe das Blättern – und Lesen natürlich – in echten Büchern auch sehr. Es gibt übrigens auch deutsche Bücher dort. Eigentlich Bücher aus aller Welt und in allen Sprachen. Und ja, es ist irgendwie ein unwirklicher Ort. Wenn du im Herbst zum Lichterfestival dort bist, ist die Atmosphäre schon fast magisch! Früher fuhren illuminierte Gondeln durch die Grachten. Damals gab es allerdings nur begrenzten Raum für Besucher. Man saß auf kleinen Tribünen und schaute von dort auf das Spektakel. Heute schlendert man eben durch die beleuchteten Gassen. Liebe Grüße, Jutta

  4. Hallo Jutta, ich liebe die Niederlande! Vom Ruhrgebiet ist es auch gar nicht so weit. Tagesausflüge gehen da immer. Bredevoort kannte ich noch nicht. Danke für den schönen Tipp!
    Eva-Maria

    • Ja, genau! Bredevoort ist winzig, aber sehr lebendig durch die zahlreichen Tagesbesucher aus den Niederlanden und aus Deutschland. Dass es diese Selfservice-Bücherregale gibt, hat sicher damit zu tun, dass sich Ladenlokale nicht für jeden Anbieter lohnen. Da muss man schon spezialisiert sein, wie der englische Bücherladen. Es gibt allerdings regelmäßig Bücherfestivals/-märkte, die auch grenzüberschreitend beworben werden und viele Besucher locken. Sonnige Grüße, Jutta

Heraus mit der Sprache! Ich sehe es wie Karl Popper: "Der Wert eines Dialogs hängt vor allem von der Vielfalt der konkurrierenden Meinungen ab."

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